11/01/2021
Zu jeder Lebensfrage gibt es ein Märchen.
Mein letztes Posting warf die Frage auf, was ich wohl mit Coröschen-Schlaf meinte.
Bereits beim ersten Covid-19 Lockdown im März 2020 drang aus meinen Erinnerungen das Märchen „Dornröschen“ in mein Bewusstsein. Das Märchen wurde bereits vor vielen hunderten Jahren in jeweils angepasster Art und Weise mit unterschiedlichster, teils grausamer Symbolik erzählt, bis es die Gebrüder Grimm aufgegriffen haben. Gerade in dieser Pandemiezeit hat es für uns wieder eine starke Symbolkraft.
Grimm's Dornröschen ganz kurz!
Das Märchen handelt von einem König und seiner Königin, die sich unbedingt ein Kind wünschen. Nach langem Bangen gebar die Königin ein Mädchen, das so wunderschön war, dass der König aus lauter Freude ein Fest gab. Dazu wollte er auch die 13 weisen Frauen des Landes einladen. Da der König aber nur 12 goldene Gedecke hatte, wurde eine der Frauen kurzerhand wieder ausgeladen.
Nach einem fröhlichen Fest beschenkten die Frauen das Mädchen mit all ihren Gaben und wünschten dem Mädchen Schönheit, Reichtum, Glück, Erfolg und vieles mehr. Plötzlich kam die dreizehnte Frau, die sehr böse war, weil sie nicht eingeladen war.
„Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen”, sagte sie und stapfte davon. Die zwölf Frauen hatten keine Möglichkeit, den Spruch aufzuheben, aber abzuwandeln. „Es soll kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt”, sagte die zwölfte Frau.
Der König erlies den Befehl, alle Spindeln im ganzen Königreich zu vernichten oder zu verstecken. Alle Wünsche der weisen Frauen wurden dem Mädchen erfüllt: Sie war wunderschön, klug und freundlich – ein Mädchen, das man einfach gerne haben musste.
Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt wurde, stieg sie eine Wendeltreppe hoch in einen Turm. Dort saß eine Frau am Spinnrad. „Guten Tag, du altes Mütterchen”, sagte die Königstochter, „was machst du da?” „Ich spinne”, sagt die alte Frau. „Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?” fragte das Mädchen. Sie nahm die Spindel und der Zauberspruch ging in Erfüllung. Sie fiel auf das Bett und in einen tiefen Schlaf.
Dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss. Der König und die Königin, die gerade nach Hause gekommen waren, schliefen ein, der Koch, der Küchenjunge, die Hunde und die Tauben. Der Braten am Spieß drehte sich nicht mehr. Und auch der Wind stand still. Rings um das Schloss wuchs eine Dornenhecke, die jedes Jahr höher wurde.
Viele junge, tapfere Männer versuchten, in das Schloss einzudringen. Aber sie schafften es nicht, weil die Dornen der Hecke sie nicht in das Schloss ließen. Gerade, als wieder ein tapferer Königssohn zu der hübschen Königstochter aufbrechen wollte, waren die 100 Jahre vorbei. Als er sich der Dornenhecke näherte, blühten dort lauter schöne Blumen. Sie öffneten sich und machten eine Gasse für den jungen Mann.
Der Königssohn sah alle Menschen, Tiere und Gegenstände auf dem Schloss schlafen. Auch fand er das wunderschöne Mädchen. Der Königssohn gab Dornröschen einen Kuss. Sie öffnete die Augen und blickte ihn freundlich an. Nach und nach erwachten alle Menschen und Tiere und Gegenstände auf dem Schloss. Es ist so, als hätten sie nie geschlafen….
… und wenn Sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.
Ein neues Dornröschen entsteht.
Wir sind nun im Jahre 2005. Wir alle meinen uns Jahr für Jahr 12 Monate lang in großer Sicherheit. Wir rauben alle Ressourcen der Erde. Wir regieren ohne Rücksicht. Wir grenzen die aus, die wir nicht wollen. Wir feiern unseren Reichtum und unsere Überlegenheit gegenüber allem. Coröschen steht als Symbol für unsere vermeintliche Unverletzlichkeit und Unfehlbarkeit. Das symbolische 13. Monat mahnt uns schon seit Jahren. Doch die guten Vorsätze für das neue Jahr dauern einen Wimpernschlag, ehe dieser Monat schon zu Ende ist.
15 Jahre später. Coröschen sticht sich nicht an einer spitzen Spindel, sondern erkrankt an der Droge, die wir Menschen nehmen, weil unser Hunger nach mehr, mehr Leben ungestillt ist. Weil es lohnender erscheint in der Welt des Raubbaus, der Phantasie und der Vorstellungskraft zu leben, als sich mit den Ereignissen in der Welt auseinanderzusetzen. Coröschen versinkt hinter der Corona-Hecke in einen langen Schlaf. Alles ist natürlich schneller geworden. Coröschen wird nicht 100 Jahre schlafen, sondern es wird über ein Jahr werden. Auf der ganzen Welt werden mehrere Corona-Pausen eingelegt, die ganze Welt steht still! Es beginnt der lange Coröschen-Schlaf.
Das Coröschen-Märchen erzählt, wie Ereignisse Geschichte werden. In diesem kurzen Zeitraum werden viele Entscheidungen getroffen. Vieles wird neu gedacht, vieles verurteilt, vieles entschuldet. Das alte Zeitalter ist abgeschlossen. Es wird ein Neues geben.
Coröschen erzählt von der Rettung der wunden Welt durch jeden von uns. Menschen, die in „unfreien“ Situationen gefangen sind, können sich zurückziehen. Im Innersten beschäftigen sie sich mit Schönem und Heilem, um ihre Seele lassen sie kurze Zeit ein Dornengebüsch ranken, der jeden „Trumpioten“ abschreckt und Eindringlinge festhält. Neue Impulse entstehen. Der junge Arzt Viktor E. Frankl hat beispielsweise in den Kriegsjahren im KZ das Buch „Trotzdem JA zum Leben sagen“ geschrieben und er hatte sich geschworen, falls er die Massenvernichtung überlebt, seine Sinnlehre als Haltegriffe allen Menschen zugängig zu machen.
Das Märchen Coröschen erzählt über eine Welt an der Schwelle einer neuen Zeit, Wir verbrauchen keine Ressourcen und die Ideen von Tugend, Schönheit und Poesie, Liebe und Freiheit können in die neue Zeit hinübergerettet werden. Es erzählt, von uns Menschen als neue Hoffnungsträger, aber auch über die Störenfriede, die bewährte und lebensfördernde Ordnungen zerstören wollen.
Coröschen lehrt uns über die Bedeutung unseres Daseins und über die zentralen Werte unserer Gesellschaft, wie Freiheit, Familie, Erfolg oder Selbstverwirklichung. Wir können die Fahrtrichtung der Gegenwart mitgestalten. Denn Zukunft ist noch da! Viktor E. Frankl hat uns ein sehr bedeutungsvolles Zitat hinterlassen: „Wir sind nicht verantwortlich für die Zeit, in der wir leben, aber wir sind verantwortlich dafür, wieweit wir diese Zeitströmungen mitprägen oder ihnen auch gegenhalten.“ Es gibt zwar noch Regierende, die die Schicksalsfäden selbst in die Hand nehmen wollen. Aber es gibt keine Kollektivschuld. Verfallen wir nicht in einen Fatalismus.
Coröschen lehrt aber auch, wie versöhnlich unsere Mutter Erde ist. Die Klima-Horrorszenarien werden abgemildert, und weit voraus gedacht, sind die Prophezeiungen uns allen zum Segen geworden. Gleichzeitig wächst unsere Verantwortung zum Schutz der Erde, und wir werden neugierig, was uns die Erde noch so alles an Schönem bietet.
Wann werden wir wieder wachgeküsst, wann dürfen wir uns wieder umarmen, wann dürfen wir all die Vorsätze und Pläne, die wir im Coröschenschlaf erträumt haben in die Realität umsetzen, zum Wohle der gesamten Welt. Das Corona-Phänomen führte zum Stillstand des öffentlichen Lebens. Die Erfahrung der plötzlichen Entschleunigung ist für viele Menschen ein Auslöser zum Umdenken und zu einer Veränderung von Prioritäten und Werten.
Ob dieser Auslöser nun Impuls bleibt oder auch zu einer nachhaltigen Veränderung führt, hängt von jedem einzelnen ab. Im Märchen erfüllt sich der Traum von einem neuen Leben!
meint Eckhard